* 20 *

20. Junge 412
Drachenring

Junge 412 war in ein Loch gefallen. Es war keine Absicht gewesen, und er hatte keine Ahnung, wie es geschehen war, aber da saß er nun, irgendwo tief unter der Erde.

Kurz bevor er in das Loch gefallen war, hatte er es endgültig satt gehabt, der Prinzessin und dem Zaubererjungen hinterherzulatschen. Die wollten ihn ja ohnehin nicht bei sich haben. Außerdem fror er und langweilte sich. Und so beschloss er, sich fortzustehlen und zur Hütte zurückzukehren. Vielleicht konnte er Tante Zelda eine Weile ganz für sich alleine haben.

Und dann stieg der Nebel.

Wenn er bei der Jungarmee etwas gelernt hatte, dann, mit solchen Situationen fertig zu werden. Oft war sein Zug in einer nebligen Nacht im Wald ausgesetzt worden und hatte allein zurückfinden müssen. Natürlich fanden nie alle zurück. Es war immer ein Pechvogel darunter, der auf hungrige Wolverinen stieß oder den Wendronhexen in die Falle ging, aber Junge 412 hatte immer Glück gehabt. Er wusste, wie man zügig und unauffällig durch Nacht und Nebel marschierte. Und so hatte er sich, lautlos wie der Nebel selbst, auf den Rückweg zur Hütte gemacht. Irgendwann kam er so dicht an Nicko und Jenna vorbei, dass sie ihn mit ausgestreckten Händen hätten berühren können, doch er schlüpfte leise vorbei, denn er genoss seine Freiheit und das Gefühl der Selbstständigkeit.

Nach einer Weile gelangte er auf den grasbedeckten Hügel am Ende der Insel. Das verwirrte ihn, denn er war überzeugt, dass er ihn bereits überquert hatte und inzwischen der Hütte ganz nahe sein musste. Ob dies ein anderer Hügel war? Vielleicht gab es am anderen Ende der Insel auch einen. Er überlegte, ob er sich verirrt haben könnte. Es war durchaus möglich, dass er auf der Insel endlos im Kreis ging und nie zur Hütte gelangte. Ganz in Gedanken, geriet er plötzlich ins Straucheln und fiel kopfüber in einen kleinen stacheligen Busch. Und da passierte es. Eben noch war der Busch da, doch schon im nächsten Augenblick war er durchgebrochen und stürzte in die Dunkelheit.

Sein überraschter Schrei verlor sich im dichten Nebel, und er landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Rücken. Atemlos blieb er eine Weile liegen und fragte sich, ob er sich etwas gebrochen hatte. Nein, dachte er und setzte sich langsam auf. Nichts tat ihm besonders weh. Er hatte Glück gehabt. Der Sand, auf den er gefallen war, hatte den Aufprall gedämpft. Er stand auf und stieß sich prompt den Kopf an einem Felsen. Und das tat weh.

Mit der einen Hand rieb er sich den Kopf, mit der anderen tastete er das Loch ab, durch das er gefallen war. Der Felsen war glatt und führte schräg nach oben, lieferte aber sonst keinen Hinweis. Weder mit den Füßen noch mit den Händen fand er irgendwo Halt. Da war nur seidig glattes, kaltes Gestein.

Zudem war es stockdunkel. Kein Lichtstrahl fiel von oben herab, und so angestrengt er auch nach oben starrte und darauf hoffte, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, es nützte nichts. Es war, als sei er erblindet.

Er sank auf alle viere und tastete sich über den sandigen Boden. Er verfiel auf den abenteuerlichen Gedanken, sich ein Loch ins Freie zu buddeln, doch als er den Sand wegscharrte, stieß er auf Steinboden, der so glatt und kalt war, dass er sich fragte, ob es sich um Marmor handelte. Er hatte Marmor ein paar Mal gesehen, wenn er im Palast Wache gestanden hatte. Aber wie sollte Marmor in die Marram-Marschen kommen, in diese gottverlassene Gegend?

Er setzte sich auf den Boden, fuhr mit den Händen nervös durch den Sand und überlegte, was er tun sollte. Schon fragte er sich, ob das Glück sich nun endgültig von ihm abgewandt habe, als seine Finger gegen etwas Metallisches stießen. Er schöpfte neuen Mut. Vielleicht war es das, wonach er gesucht hatte, ein verborgenes Schloss oder ein geheimer Griff. Doch als seine Finger den Gegenstand umschlossen, folgte die Ernüchterung. Er hatte nur einen Ring gefunden. Er hob ihn auf, wiegte ihn in der flachen Hand und richtete die Augen auf ihn, obwohl er in der stockfinsteren Nacht nichts erkennen konnte.

»Wenn ich doch nur Licht hätte«, murmelte er vor sich hin und versuchte, den Ring zu sehen. Er riss die Augen so weit wie möglich auf, doch es nützte nichts. Der Ring lag in seiner Hand, und nachdem er jahrhundertelang allein an diesem kalten dunklen Ort unter der Erde gelegen hatte, erwärmte er sich nun langsam in der kleinen Menschenhand, der ersten, die ihn hielt, seit er vor langer Zeit verloren worden war.

Junge 412 wurde ruhiger, während er so mit dem Ring dasaß. Er merkte, dass er keine Angst vor der Dunkelheit hatte. Er fühlte sich ziemlich sicher, sicherer als seit Jahren. Viele Kilometer trennten ihn von seinen Peinigern bei der Jungarmee, und hier würden sie ihn niemals finden. Er lächelte und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er würde einen Ausweg finden, so viel war sicher.

Er wollte wissen, ob der Ring passte. Für seinen dünnen Finger war er viel zu groß, und so steckte er ihn sich an den rechten Zeigefinger, den dicksten Finger, den er hatte. Er drehte ihn wieder und wieder herum und genoss die Wärme, ja Hitze, die von ihm ausging. Bald spürte er etwas Seltsames. Der Ring, der sich so anfühlte, als sei er lebendig geworden, schlang sich fest um seinen Finger. Er passte jetzt perfekt. Und damit nicht genug. Er verströmte auch ein schwaches goldenes Licht.

Zum ersten Mal konnte er seinen Fund sehen und betrachtete ihn voller Freude. Einen Ring dieser Art hatte er noch nie gesehen. Er hatte die Form eines goldenen Drachen, der sich in den eigenen Schwanz biss. Seine smaragdgrünen Augen funkelten ihn an, und er hatte das sonderbare Gefühl, dass der Drache ihn wahrhaftig ansah. Erregt stand er auf und streckte die rechte Hand aus, die Hand mit dem Ring, seinem Drachenring, der mittlerweile so hell leuchtete wie eine Laterne.

Im goldenen Lichtschein des Rings sah er sich um. Er befand sich am Ende eines Tunnels. Vor ihm lag ein hoher schmaler Gang, der sauber aus dem Fels gehauen war und noch tiefer in die Erde hinabführte. Er hob die Hand und leuchtete in das Dunkel, aus dem er gefallen war. Unmöglich, da konnte er nicht hinaufklettern. Das Loch, das ihn verschluckt hatte, war zu weit oben. Widerstrebend sah er ein, dass ihm nur eine Möglichkeit blieb: Er musste dem Tunnel folgen und darauf hoffen, dass er zu einem anderen Ausgang führte.

Und so machte er sich, den Ring vor sich hinhaltend, auf den Weg. Es ging gleichmäßig bergab. Der Tunnel wand sich um viele Kurven, bog mal in die eine, mal in die andere Richtung ab, führte in Sackgassen und bisweilen auch im Kreis, bis Junge 412 jede Orientierung verloren hatte und sich schwindlig fühlte. Es war, als hätte der Erbauer des Tunnels alles darauf angelegt, ihn zu verwirren.

Und das, so glaubte Junge 412, war auch der Grund, warum er die Treppe hinunterfiel.

Am Fuß der Treppe schnaufte er erst einmal durch. Gebrochen hatte er sich auch diesmal anscheinend nichts. Er war nicht tief gefallen. Aber etwas fehlte – sein Ring war fort. Zum ersten Mal, seit er in dem Tunnel war, bekam er Angst. Der Ring hatte ihm nicht nur Licht gespendet, sondern auch Gesellschaft geleistet. Und er hatte ihn gewärmt, wie ihm jetzt klar wurde, denn plötzlich zitterte er wieder vor Kälte. Mit weit aufgerissenen Augen spähte er in die pechschwarze Nacht und hielt verzweifelt nach dem goldenen Glimmen Ausschau.

Nichts.

Er sah nichts außer Schwarz. Er fühlte sich verlassen. So verlassen, wie er sich damals gefühlt hatte, als sein bester Freund, Junge 409, bei einer nächtlichen Kaperfahrt über Bord gefallen war und sie nicht hatten anhalten dürfen, um ihn aus dem Wasser zu ziehen. Junge 412 schlug die Hände vors Gesicht. Am liebsten hätte er aufgegeben.

Dann hörte er den Gesang.

Eine wunderschöne Stimme, sanft und zart, drang an sein Ohr und rief ihn zu sich. Auf alle vieren, da er nicht noch einmal eine Treppe hinunterfallen wollte, kroch er in die Richtung, aus der die Stimme kam. Zentimeter um Zentimeter tastete er sich über den kalten Marmor, und je näher er dem Gesang kam, desto sanfter und weniger eindringlich wurde er. Auf einmal klang er merkwürdig gedämpft, und Junge 412 merkte, dass seine Hand auf dem Drachenring lag.

Er hatte ihn gefunden. Oder besser gesagt, der Ring hatte ihn gefunden. Mit einem glücklichen Lächeln steckte er sich den Ring wieder an den Finger, und die Dunkelheit rings um ihn schwand.

Der Rest war ein Kinderspiel. Der Ring wies ihm den Weg. Der Tunnel war breiter geworden, führte geradeaus und hatte nun weiße Marmorwände, die hunderte einfache Gemälde in leuchtenden Blau-, Gelb- und Rottönen schmückten. Doch dafür hatte er jetzt keine Augen. Er wollte nur noch eins: den Ausgang finden. Und so ging er weiter, bis er fand, was er suchte, nämlich eine Treppe, die nach oben führte. Mit einem Gefühl der Erleichterung erklomm er die Stufen. Dahinter ging es eine steile sandige Schräge hinauf, die bald in einer Sackgasse endete.

Im Lichtschein des Rings sah er schließlich den Ausgang. Eine alte Leiter lehnte an der Wand, und über ihr war eine hölzerne Falltür. Er stieg die Sprossen hinauf und drückte gegen die Falltür. Er atmete auf, sie gab nach. Er drückte etwas stärker. Die Falltür öffnete sich, und er spähte durch den Spalt. Draußen war es dunkel, aber eine Veränderung in der Luft verriet ihm, dass er nun über der Erde war, und während er wartete und sich zu orientieren versuchte, gewahrte er einen schmalen Lichtstreifen auf dem Boden. Er seufzte erleichtert. Er wusste, wo er war. Er war in Tante Zeldas Schrank für Unbeständige Tränke und Spezialgifte. Lautlos hievte er sich nach oben, klappte die Falltür zu und legte den Teppich, der sie verdeckt hatte, wieder darüber. Dann öffnete er vorsichtig die Schranktür und spähte hinaus. Die Luft war rein.

Tante Zelda stand in der Küche und braute gerade einen neuen Trank. Als er an der Tür vorbeischlich, schaute sie kurz auf, schien aber so in ihre Arbeit vertieft, dass sie nichts sagte. Er huschte weiter zum Kamin. Mit einem Mal fühlte er sich todmüde. Er zog den Drachenring vom Finger und steckte ihn in die Tasche, die er an der Innenseite seines roten Huts entdeckt hatte. Dann sank er neben Berta auf den Teppich vor dem Kamin und schlief ein.

Er schlief so tief, dass er nicht hörte, wie Marcia herunterkam und Tante Zeldas größtem und wackligstem Bücherstapel befahl, sich in die Luft zu erheben. Weder hörte er das Säuseln, mit dem ein großes und sehr altes Buch mit dem Titel Wie man die dunklen Kräfte unschädlich macht unter dem schwankenden Turm hervorschlüpfte und zu dem bequemsten Sessel am Kamin hinübersegelte, noch das Rascheln der Seiten, als das Buch sich gehorsam aufschlug und bis zu der Seite blätterte, die Marcia lesen wollte.

Er hörte nicht einmal Marcias spitzen Schrei, als sie auf dem Weg zu dem Sessel beinahe auf ihn trat, zurückprallte und stattdessen auf Berta trat. Im tiefsten Schlaf hatte er einen seltsamen Traum. Er träumte von einer Schar zorniger Enten und Katzen, die ihn durch einen unterirdischen Gang hetzten, dann in die Lüfte trugen und das Fliegen lehrten.

In seinem Traum entrückt, lächelte Junge 412. Er war frei.

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